Landleben mit Nebenwirkungen

Irrtum: Es ist ein Irrtum, zu glauben, die Erde bliebe so wie sie ist. Alles was wir tun hat Nebenwirkungen. Selbst wenn wir nichts tun, verändert sich die Welt.

Ein Artikel zur Jahrtausendwende von Heiner Keller

Regionale Landschaften und Traditionen prägen die Menschen. Menschen prägen die Landschaft. Wenn Nahrung und Verdienst nicht mehr aus der Landschaft, sondern aus Diensten, Staatsquellen oder globalen Aktivitäten stammen, entstehen Nebenwirkungen auf die Landschaft. Leben, Siedlungen und Landschaften werden austauschbar.

Schweizer Heimat ist da, wo wir leben und vom Leben träumen. Wohnen im Wohlstand mit einem Anteil Seesicht. Arbeiten in der Region Zürich. Geschäftsreisen nach New York, London und Brüssel. Einkaufen im Internet oder irgendwo. Wälder, Felder, Seen, Alpen und Jura liegen als Naherholungsgebiete vor der Haustür.

Heimat Schweiz

Für jeden persönlich ist das, was er macht, so normal, dass für ihn kein Anlass besteht, sein Tun zu hinterfragen. Schliesslich muss man dort arbeiten, wo die Arbeit heute ist und wo sie gut bezahlt wird. Dafür jobt man und richtet sich ein. Der Arbeitsweg und der Stau vor jeder Kleinstadt geben die willkommene Gelegenheit, zwischen Arbeit und Zuhause einen Puffer zu haben. Vor lauter Normalität, ist uns gar nicht mehr bewusst, in welchem Umkreis wir uns im Alltagsleben bewegen. Erst die Anschläge in New York, Flugzeugabstürze und Tunnelschliessungen bringen die Gewöhnlichkeit des Mobilitätswahns wenigstens einen Moment ins Wanken. Diskussionen im Bekanntenkreis lassen staunen über Distanzen, in welchen sich jüngere oder ältere Mitglieder von Schweizer Familien bewegen. Europa, Asien und vor allem Nordamerika gehören als Destinationen einfach dazu. Zum Alltagsleben zählen Wohnen, Schule, Beruf, Einkaufen, Hobby, Erholung, Zahnarzt, Spital, Berufsreisen, Freizeit und die Zeit nach der Pensionierung. Die Freizeit zählen wir nicht zu den Ferien, sondern betrachten sie als Ausgleich zum Beruf. Die berufliche Tätigkeit übt man für Lohn und Freizeit aus. Man beansprucht Freizeit wie Naherholungsgebiete, Vereine und Sportstätten. Neben den berufsbedingten und schulischen Reisen werden folgerichtig auch die Freizeitaktivitäten oft und gerne an fernen Orten ausgeübt. Freizeit ist oft genau so stressig und abstrakt wie die Arbeit.

Das Gefühl für Heimat und Landschaft sehr viel mit dem aktuellen Lebenstil zu tun hat. Aus allen Lebenslagen, Orten und Verschiebungen ergeben sich Eindrücke, Gefühle, Kontakte, neue Möglichkeiten und Hoffnungen. Der eigentliche Wohnort, die papiermässig registrierte Wohn- und Schlafstätte, reduziert sich auf eine Heimbasis. Sie ist nicht mehr der einzige Ort, der ungeteilt die Gefühle für Heimat, für Erlebnisse und das ganze persönliche Engagement jedes Einzelnen für sich in Anspruch nehmen kann. Die Milizsysteme der Gemeinden und Vereine könnten aktive Leute gebrauchen. Weil sich der Lebensstil in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert hat, kann auch die Landschaft nicht mehr dieselbe sein wie früher.

Die Schweiz hat keine Stadt, die sich mit einer richtig grossen Weltstadt vergleichen liesse. Dank dem Verhalten und dem materiellen Reichtum der Einwohner funktioniert die Schweiz wie eine einzige Stadt. Die früher mehr oder weniger eigenständigen Welten der Dörfer, der Herrschaftsgebiete, der Kleinstädte und der Klöster gingen in der modernen Gesellschaft unter. Diese hat sich mit Steuern und Geld sogar das Landwirtschaftsland und den Wald in ihre Einflusssphäre einverleibt. Von kleineren und grösseren Zentren aus wucherten Häuser und Verkehrsanlagen über die Landschaft des Schweizer Mittellandes. Dank individueller Mobilität und Bewegungsdrang wurden Genf, Lausanne, Bern, Basel, Luzern, Zug, Zürich, Winterthur, Kreuzlingen zu Quartieren einer städtischen Schweiz. Grüne Felder und Wälder wurden zu bezahlten Grünanlagen und Naherholungsgebieten der Wohn- und Schlafregionen. Die charakteristischen Unterschiede zwischen Stadt- und Landleben sind ebenso am Verschwinden wie lebendig-eigenständige regionale Landschaften.

Landleben und Landschaft

Mit einer hohen Besiedlungsdichte und einem globalen Wohlstandsgebahren ist ein regional eigenständiges Landleben nicht mehr möglich. Die Schweiz ist eine Stadt, weil sie ihre Bedürfnisse nicht mehr aus dem Land decken kann oder will. Reiche Städte verhalten sich global. Sie leben aus einem grossen Umfeld. Sie importieren und exportieren was sie brauchen und was sie wollen. Die Reste werden entsorgt, verbrannt, deponiert und exportiert. Die Speisereste kommen nicht mehr in den Schweinetrog. Nicht einmal mehr für den selber produzierten Klärschlamm haben wir eigene Verwendung.

Landleben bedeutet, auf dem Land und aus dem Land leben. In der Stadt wohnten, etwas vereinfacht gesagt, die Obrigkeit, die Händler, die Handwerker und die Studierten. Auf dem Land lebten die Bauern. Wohl trieben die Landleute regen Handel mit der Stadt: Man kaufte und verkaufte Tiere und Produkte. Markt, Geldverleih, Schreiber, Doktor oder der Gang vor Gericht boten Gelegenheiten für Fahrten oder Wanderungen in die Stadt. Hauptsächlich aber lebte man auf dem Land und von dem, was das Land hergab.

„Bauern waren es, die aus der waldbeherrschten Natur mehr oder minder wechselvolle offene Landschaften schufen, in denen sie mit ihrem Vieh leben konnten. Aus den gegebenen Baustoffen und angepasst an die möglichen Wirtschaftsweisen entstanden ihre Häuser, Höfe und Dörfer. Deren Formen wandelten sich ebenso wie die Landschaften mehrfach im Laufe der Zeit, weil Erkenntnisse und Techniken intensivere oder andere Nutzungen sowie neue Bauweisen gestatteten.“ Die eindrückliche Vielfalt der Bauernhäuser und Siedlungen, die in Europa aus einer jahrhundertealten gemeinsamen Entwicklung von Landschaft, Wirtschaft und Hofform hervorgegangen ist, hat der Botanikprofessor Heinz Ellenberg in einem dicken Buch „Bauernhaus und Landschaft“ dargestellt. Typischerweise sind nur die Verhältnisse bis 1950 dargestellt. Nach 1950 verwischten die grossräumiger werdenden Nutzungsmöglichkeiten regionale Unterschiede rasch.

Das Landleben vor 1950 hinterliess uns ausser unverwechselbaren Bauten Riegelhäusern, Strohdachhäusern und Bauerndörfern die traditionellen Kulturlandschaften. In einer akribischen Fleissarbeit stellte Klaus Ewald den Landschaftswandel anhand ausgewählter Kartenblätter 1:25’000 für die Zeitspanne zwischen 1953 und 1976 dar. Die Ergebnisse waren damals neu. In Fachkreisen wurden sie staunend zur Kenntnis genommen – heute sind sie weitgehend vergessen. Vergessen als wirkungsloser Klassiker der Naturschutzliteratur. Die geistigen, rechtlichen und technischen Grundlagen für den Landschaftswandel waren schon lange aktiv und gesellschaftlich akzeptiert, bevor sich die Auswirkungen auf Landschaft und Landkarten wissenschaftlich dokumentieren liessen. Vergessen aber auch in der Wahrnehmung der Bevölkerung. Wer kennt noch das Aussehen von kleinstrukturiert Landschaften, Wölbäcker, Raine, Weidgräbe, Lesesteinhaufe, Obstbaumlandschaften, Rasenwege, Hohlwege und natürliche Gewässer?. Die feinen Spuren harmonischer Kulturlandschaften sind grossflächig und radikal unter Überbauungen und modern bewirtschafteten Feldern verschwunden. Flurnamen, die Tätigkeiten oder Eigenschaften der Orte beschrieben, stehen heute ohne Bedeutung und Inhalt auf alten Karten. Ausgewählte Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände des ländlichen Lebens, des Gewerbes und des Handwerks sind restauriert und geordnet in Dorfmuseen zu bestaunen.

50 Jahre Wachstum

50 Jahre rasante Wirtschaftsentwicklung, der Fall des Eisernen Vorhanges und die Globalisierung nach altem europäisch-amerikanischem Kolonialmuster haben unsere Gesellschaft umgekrempelt. Die phänomenalen wirtschaftlichen Bedingungen, die Möglichkeiten und Erwartungen prägen Art und Tempo der momentanen Entscheidungen. Das Profitieren, das Bewahren und Mehren des Wohlstandes sind wesentliche Triebfedern für das Handeln im Alltag. Das verinnerlichte Dogma des angeblich unabdingbaren kontinuierlichen Wachstums bewirkt in der Landschaft viel tiefgreifendere Änderungen, als es die publizierten Absichten, die blosse Anzahl der Bewohner oder die Statistik glauben machen wollen.

Irgend jemand musste einmal mit einer Zukunftsvision die Aufbruchstimmung der Schweizer treffen. Dem Wirtschaftsprofessor Francesco Kneschaurek war es in den 70er Jahren vorbehalten, dem Denken von Behörden, Planern, Unternehmern und Spekulanten einen nachhaltigen Schub zu geben. Er prognostizierte erstmals, dass in der Schweiz 10 Mio Menschen leben könnten. In den Köpfen der Baukommissionen, der Landbesitzer, der Geschäfte und der Verwaltungen begann es zu leuchten. Skeptiker und Kritiker hatten es schwer, den denkbaren Aufschwung mit altväterlich profanen Hinweisen auf Veränderungen und Auswirkungen in Frage zu stellen. Kneschaurek artikulierte ein Bedürfnis der entscheidenden Gesellschaft. Als unabhängiger, unanfechtbarer Experte schaffte er für Behörden und Volk die geistigen Grundlagen für eine mögliche neue Schweiz. weil die Anzahl der vermeintlichen Profiteure gross genug war. Weil die Anzahl der vermeintlichen Profiteure mehrheitsfähig war, konnten in einer eigentlichen Euphorie die planerischen, rechtlichen und organisatorischen Entscheide für die Umsetzung getroffen werden. Gut eidgenössisch-föderalistisch konnten alle teilhaben. Aus dieser Epoche der Schweizer Geschichte sind uns, unter anderem, über das Land verteilt rechtsgültig ausgeschiedene Bauzonen für mehr als 10 Mio Einwohner geblieben.

Der materielle Wohlstand und der technische Fortschritt haben den prognostizierten Entwicklungen und Hoffnungen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wohlstand und Lebensstil bewirkten, dass die Schweizer immer weniger Nachkommen haben. Der einheimische Nachwuchs genügt heute schlicht nicht mehr für ein wirkliches Bevölkerungswachstum. Dass die Lebenserwartung steigt, genügt nicht um die Bauzonen füllen. Heute macht sich die Gesellschaft sogar echt Sorgen, wie die Finanzierung der Altersvorsorge gesichert werden kann, wenn immer weniger junge Leute Beiträge einzahlen.

Für eine gewisse Zeit halfen die „Gastarbeiter“ der Industrie und dem Wachstum auf die Sprünge. Mit Rationalisierungen, technischem Fortschritt, rigorosem Einsatz von Geld und Ressourcen wurde die Arbeitsleistung der Werktätigen gesteigert. Heute kann man mit viel weniger Leuten mehr produzieren, als die Gesellschaft verbraucht. Dazu kommt, dass der Einkauf der Produkte aus einem billigeren Land für uns geldmässig in vielen Fällen rentabler ist. Mit einer erleichterten Einwanderung liesse sich das Bevölkerungswachstum steigern. Dieser Möglichkeit, die Bauzonen zu nutzen, widerspricht allerdings der Erwartung, dass vor allem der Wohlstand wachsen soll. Mit ärmeren Leuten lässt sich das kaum bewerkstelligen. Diejenigen, die gleich reich sind wie wir, sind weltweit relativ selten und überall willkommen.

Selbst eine zahlenmässig stagnierende Bevölkerung kann eine grössere Fläche überbauen und nutzen. Dabei ist die Anzahl der Menschen gar nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, dass sich jedermann so viel Wohnfläche wie möglich leistet, dass wir überall erreichbar und dass wir innerhalb der Schweiz und der Welt beweglich sind. Die aktive Bevölkerung generiert damit Wachstum. Reale und vermeintliche Krisen, neue Wachstumsmärkte, ein ständiger Wandel haben uns zum Umdenken gezwungen und aus der verwurzelten Trägheit geweckt. Stundenlange Arbeitswege sind zumutbar bis normal. Dafür sind die persönlichen Möglichkeiten enorm gestiegen: Wer sich nirgends bindet, flexibel ist und sich gut verkauft, der oder die kann sich sowohl den besten Arbeitsplatz als auch den besten Wohnort aussuchen. Man lernt lebenslang – zumindest das, was einem der Beruf abverlangt oder was einem mehr materiellen Wohlstand und Ansehen verspricht. Lernen bedeutet vor allem flexibel werden, flexibel bleiben und neue Chancen laufend nutzen. So erreichten wir die „10-Millionen-Schweiz“ sogar mit wesentlich weniger Einwohnern. Wenigstens in Bezug auf den Landschaftsverschleiss und die Auswirkungen auf die Umwelt.

 

Die Schweiz wird überbaut und bewaldet

1992 bis 1997 sind pro Jahr 40’000 ha Kulturland „verschwunden“. 2/3 davon wurden vornehmlich im Mittelland überbaut. 1/3 wurde vom Wald wieder besiedelt. Die Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen, wie eine Buchhaltung, erst im Nachhinein das Ergebnis einer Entwicklung. Interessanterweise sind es meist solche Zahlen aus der Vergangenheit, die interpretiert werden und die Vorschläge und Publikationen auslösen. Wenn die Erkenntnisse auf den Erfahrungen von gestern beruhen und wenn die Vermittlung von Fakten marketinggeschönt erfolgt, kann dabei nichts Gescheites herauskommen. Die für die Zukunft wichtigen heutigen Entscheidungen und gesellschaftlichen Strömungen sind viel weniger Gegenstand von Untersuchungen und Diskussionen.

 

Verstädterung

Die Durchmischung und Ausbreitung von Stadt- und Landbevölkerung findet sowohl in den Städten als auch auf dem Land statt. In den Zentren, da wo höherer Verdienst lockt, wo Banken, Versicherungen, Geschäfte, Ärzte und Anwälte florieren, sehnt man sich eher nach freizeitlicher Ruhe. Man hat Hobbys für die man Platz und Landschaft braucht. Man geht auf’s Land, weil man vom hereingeholten Geld auch einmal etwas haben will. Die Erwartung ist klar: Doppelgarage und Parkplatz endlich ganz nahe – am liebsten sogar in der Wohnung. Für die Arbeit, die Kultur, das Einkaufen, die Schule und den Spital ist man immer noch rasch genug in der Stadt.

Auch auf dem Land hat man Geld. Zum Beispiel durch Landverkauf, Erbschaft oder eigenen Fleiss dank gleicher Ausbildung wie im Zentrum. Viele bleiben auf dem Land, arbeiten aber in Wirtschaftszentren. Der Arbeitsweg wird in Zeit gemessen. Dank nahem Autobahnanschluss und guten Verbindungen kann man mit einer Stunde Auto- oder Bahnfahrt schon recht weit kommen. So nimmt man teil am Wirtschaftsleben und bleibt trotzdem auf dem Land. Statistisch steigt die durchschnittliche Pendlerzeit jährlich an. Mit noch besseren Erschliessungen und rascheren Verkehrsmitteln wachsen die räumlichen Möglichkeiten zwischen Verdienen, Wohnen und Vergnügen nicht nur linear, sondern im Quadrat.

Und wo sind die Bauern, die Masse der früheren Landbewohner geblieben? Die grosse Anzahl von Kleinbauern hat ihre Häuser in den Dörfern aufgegeben, für Wohnungen und Überbauungen frei gemacht. Freiwillig, durch Verkauf von Bauland oder unfreiwillig durch den Strukturwandel in der Landwirtschaft. Moderne Landwirtschaft und modernes Wohnen sind in unmittelbarer Nachbarschaft kaum mehr mit den Ansprüchen der Gesellschaft vereinbar. Wo gibt es in wachsenden Wohngebieten noch Bauernhöfe mit Kühen? Mit staatlichen Beiträgen an Güterzusammenlegungen, Wegnetze, Aussiedlungen und jährlichen Direktzahlungen müssen die wenigen verbliebenen Landwirte wirtschaftlich über Wasser gehalten werden. Nicht einmal sie können aus dem, was das Kulturland hergibt, eigenständig einen „normalen“ Verdienst erwirtschaften. Trotz modernster Produktion, Ausbildung, Rationalisierung und dem Einsatz grösster Maschinen können sie nicht so billig produzieren, wie der Weltmarkt dies verlangt. Wegen internationlaer Wirtschaftsabkommen müssen wir die Grenzen für Produkte und Verkehr offen halten. Wir haben uns daran gewöhnt, überall und jederzeit frische Ware zu günstigsten Preisen zu haben. Irgendwo auf der Welt ist immer Saison oder Aktion. Ein Yoghurt hat sowieso schon eine halbe Weltreise hinter sich, bvor es im Regal landet. Dafür müssen wir uns die angeblich besondere Multifunktionalität der Schweizer Bauern mit Direktzahlungen erhalten. Auch sie leben damit vom Geld der Stadt Schweiz. Sie nutzen uns im Mittelland die Felder und Äcker, die wie Grünflächen zwischen Siedlung und Wald bisher erhalten geblieben sind. Sie ermöglichen es uns, die Velorennfahrer der Tours de Suisse mit Kühen zu fotografieren und den Japanern und Amerikanern eine heile Schweiz zu zeigen.

Aber auch für die Bauern ist die Entwicklung nicht lustig. Wachsen oder weichen ist vielfach die letzte Alternative. Ein ständiger Wechsel der Vorschriften und der Bedingungen für die Direktzahlungen schaffen Unruhe und Unsicherheit. Das Tempo der Veränderungen ist so hoch, dass auf einem modernen Bauernbetrieb dauernd umgebaut und umgestellt wird. Weil niemand weiss, für wie lange die Investition gut sein wird, bleibt vieles Flickwerk und billigste Machart. Die Landschaft und die Umgebung des Hofes als Deponie für Siloballen und alte Maschinen sind heute Standard.

 

Wohngebiet Reusstal

Das Reusstal ist bekannt als schöne, ebene Naturlandschaft. Mit der Sanierung der Reusstalebene (1971-1990) wurden die Voraussetzungen für die künftigen Nutzungen geschaffen: Kraftwerk, Landwirtschaft mit Aussiedlungshöfen, Naturschutzgebiete, Wegnetz und Parkplätze. Mit dem Strukturwandel (Bauernsterben) wurden nach und nach viele Bauernhäuser in den Dörfern frei. Zusammen mit neuen Bauzonen wurden diese verkauft. Das Reusstal ist automässig rasch erreichbar von Zürich, Zug und Luzern. Neue Leute mit Hunden, Pferden und anderen Hobbys siedelten sich im paradiesischen Reusstal an. Die Landnutzung und die Landbeanspruchung änderten sich sehr stark. Waren es früher ein paar Vogelschutzvereine, die an Wochenenden Brachvogel, Kiebitz und Hasen beobachteten, sind es heute neue Anwohner und eine viel grössere Zahl Erholungssuchender, die ihre Hobbys in der Landschaft ausüben.

 


 

Landleben mit Robidog

Es sind die kleinen Dinge, die das Gefühl für das Leben ausmachen. Das Leben auf dem Lande, findet dort statt, wo Leute den Rasen selber mähen, den Schnee selber beseitigen, mit dem Hochdruckreiniger hantieren und am Samstag ihre Autos waschen. Kinder spielen noch nicht auf dem Kinderspielplatz, sondern auf der Strasse oder im Garten. Die Strassenlampen werden nach Mitternacht abgelöscht und die Sonntagszeitungen müssen am Automaten abgeholt werden. Ganz ländlich wird es dort, wo die Leute einander noch grüssen. Einfach so als ob sie sich kennen. Schliesslich kennt man jeden vom Sehen, vom Hören sagen oder eben vom Grüssen.

Hausmässig ist der Landbesitzer im Rahmen des Zonenplanes und des Geldbeutels frei. Wer mehr auf den Preis schauen muss, kauft ein Reihenhaus. Wer es besser vermag, baut sich ein grösseres Haus am Hang mit Doppel- oder Dreifachgarage. Die individuelle, gestalterische Freiheit wird von den Architekten, den Gärtnern und den Bauherren voll ausgenützt. Und so sehen denn die neuen Quartiere auch wie ein Katalog aller Möglichkeiten. Die Anbieter stellen angeblich den Kunden mit seinen Wünschen und Anforderungen in den Mittelpunkt ihrer Angebote. Ihr Geschäftserfolg wird vom Kundenmarkt gesteuert. Sämtliche Tätigkeiten und Versprechen sind auf die Schaffung und Befriedigung von Bedürfnissen und Erwartungen des Kunden ausgerichtet. Weil sich auch die Kunden diese individuelle Philosophie zu eigen gemacht haben, kann und will niemand mehr die gestalterische Führung übernehmen. Jede Parzelle wird individuell gestaltet. Irgendwo in seinem globalen Lebensradius, bei einem Bekannten oder Verwandten in nah und fern, in einem Katalog, im Fernsehen oder einfach in der Nachbarschaft findet der Bauherr, was er möchte. Und so werden die Produkte der Bau- und Gartenmärkte über die Bauzonen verteilt. Das Spezielle der Landschaft, besondere Oberflächenformen oder Traditionen spielen für die Hausformen keine Rolle mehr. Eine unverwechselbare Einheit in den Quartieren, die Harmonie mit der Landschaft fehlen, obwohl die Einzelbauten sicher schweizerisch solid und gut sind.

Die Einfalt bezüglich der Gestaltung der Umgebungs- und Grünflächen wird durch ständig neue Angebote von Maschinen und Hilfsmitteln gefördert. „Brückenbauer“ und „Coopzeitung“ werden nicht müde, immer neue Produkte zu lancieren. Das Laub wird geblasen, der Schnee geschleudert, der Rasen getrimmt und entmoost. Die Nachbarn überbieten sich in der klinischen Sauberkeit und Gepflegtheit ihrer Anwesen. Es ist weniger der Kunde als vielmehr der Verkäufer, der via Werbung und Beeinflussung der Gesellschaft das Aussehen der Quartiere bestimmt. Die Möglichkeiten des kollektiven Unfugs sind gross. Mit dem Verkauf ständig neuer Geräte und Produkte lässt sich der Konsum ankurbeln. Dass nebenbei auch noch Grünabfälle entsorgt werden müssen, gehört eben zur modernen Stadt.

Wer sich eine Immobilie sich erworben hat, neigt erfahrungsgemäss zu etwas weniger Mobilität. Es bleibt offen, ob er sich jetzt die Träume erfüllt hat und satt und träge zur Ruhe kommt, oder ob er mit Haus und Garten so viel Arbeit hat, dass die Kräfte und die Zeit nicht für mehr Aktivitäten reichen. Vielleicht hat er auf dem täglichen Arbeitsweg genügend Mobilität gehabt. Auf dem Lande lebt es sich vielleicht menschlicher, heiler, als im Zentrum. Dabei wohnen im Prinzip die gleichen Leute hier. Graduelle Unterschiede aus der Geschichte, wegen der Landschaft, unterschiedlichem Lärm oder die Aussicht fallen als Unterschiede zu städtischen Quartieren kaum mehr ins Gewicht. Nachbarn gibt es natürlich auf dem Dorfe auch. Nach eigenen Gusto kann man sich gegen sie öffnen oder mit Mauern, Hecken und Zäunen abgrenzen. Letzteres ist in der Regel wegen der Hunde, der Katzen und der Nachbarskinder besser.

Der Robidog ist eine typische Erfindung unserer Zeit und unserer Siedlung. Robidogs stehen überall an Grenzen zwischen Wohnen und Grünfläche. Man kann sich mit Plastiksäckchen eindecken und darin die Hinterlassenschaft des Hundes fein säuberlich einpacken. Das Eingepackte wird im Robidog oder irgendwo deponiert und die Sache ist für Hund und Meister zur vollen Zufriedenheit erledigt. Den Rest übernimmt sonst jemand für die Gemeinschaft.

Obschon die Bevölkerung zu einer mobilen städtischen Gemeinschaft mit wenig regionalen Unterschieden zusammengewachsen ist, sind die Verwaltungsstrukturen und Gemeindeeinteilungen des letzten und vorletzten Jahrhunderts bis heute weitgehend erhalten geblieben. Das System der Gemeindeautonomie ist immer noch stabil, verknüpft und bequem. Die sinkende Selbstverantwortung und das nachlassende Engagement der Bewohner für die Gemeinschaft haben bisher nicht genügt auch nur ansatzweise Organisation und Verwaltung an das anzupassen, was in Landschaft, Leben, Konsum, Information und Werbung schon längst vollzogen ist. Die Vereinheitlichung ist in vielen Lebensbereichen leider schon passiert. Nur müssen wir nicht glauben, der Luxus der hergebrachten Strukturen würde daran etwas ändern oder noch Schlimmeres verändern. Bisher jedenfalls hat er es nicht getan.

Nebenwirkungen

Wer einmal mit einem Computer geschrieben hat, geht ohne Not nicht mehr zurück zur mechanischen Schreibmaschine. Wer einen Motormäher hat, braucht keine Sense mehr. Dafür betrachten wir es als selbstverständlich, dass andere Leute billiger für uns und unsere Produkte arbeiten müssen, als wir es täten. Wir beanspruchen mehr Land und Ressourcen, als uns in der Schweiz zur Verfügung stehen. Wir leben auf zu grossem Fuss. Damit wir wettbewerbsfähig bleiben, müssen wir trotzdem rasch wachsen und uns ständig wandeln. Umschichten, kaufen, verkaufen bis von traditionellen Unternehmen kein Stein mehr auf dem andern steht. Den zeitlichen und räumlichen Bezug zu dem, was geschieht oder geschehen könnte, haben wir schon lange verloren. Es ist nicht mehr möglich, etwas langsam zu entwickeln, wachsen zu lassen und aus Fehlern zu lernen. Wir leben von Strohfeuern und rollenden Landstrassen. Bei dem Tempo der Ereignisse kommen nach bisherigen Massstäben weder Landschaft noch Gesellschaft mit.

Nur was wächst, gilt wirtschaftlich als gut und erfolgreich. Ein jährliches Wachstum von weniger als 2 % wirkt auf die Gesellschaft wie drei Monate Regenwetter auf die Gemüsebauern. Wenn irgendwo ein grosser Wirtschaftsmotor ins Stottern kommt, wird staatliche Aktivität entwickelt und angekurbelt. Blutverdünner und Treibstoffe werden zugefügt oder verbilligt.

Jedermann müsste wissen, dass jedes regelmässige Wachstum früher oder später einmal aufhört. Entweder versiegt die Kraft versiegt oder es wird eine Grenze erreicht. In der Natur ist diese Regel selbstverständlich. Die Natur wendet die Regel einfach und unerbittlich an. Ein zu hoher Baum bricht. Sich übermässige vermehrende Tiere verhungern oder werden krank. Der intelligente Mensch hat für Voraussagen die Mathematik. Er kann ausrechnen, was passiert, wenn etwas jährlich mit 2 % immer weiter wächst. Irgendeinmal beginnt die Kurve steil anzusteigen. 2 % werden immer mehr und niemand hat die Sache mehr im Griff.

Beispiele für steigende Kurven gibt es genug. Der Handyboom, die Zunahme des Berufs- und des Freizeitverkehrs und die bis vor kurzem exorbitante Steigerung der Flugbewegungen liegen weit über den Erwartungen. Letztere liegen auch weit über jeder Vernunft und über dem, was die Erde langfristig erträgt. Bisher ist es dem reichen Teil der Menschheit immer wieder gelungen, die Grenzen des Wachstum hinauszuschieben. Es sind denn auch nicht erreichte Grenzen, sondern Einzelereignisse aufgrund von Risiken, die doch schon ganz beachtliche Störungen im bisher gewohnten System bewirken können. Einzelereignisse wie Anschläge, Unglücke, Erdbeben entziehen sich der mathematischen Berechenbarkeit und Voraussage. Wir müssen sie deshalb offensichtlich zuerst erleben, bevor wir sie zur Kenntnis nehmen. Weil sie uns immer unerwartet treffen und global online verfolgt werden können, verunsichern sie die Gesellschaft rasch. Auf jede Krise hat die Menschheit aber bisher mit Innovation und noch mehr Wachstum reagiert.

Zwischen den Todesanzeigen in der Presse und dem eigenen Leben erkennen wir keinen Zusammenhang. Dass wir für den Verkehr regelmässig Opfer an Menschen und Landschaft bringen, nehmen wir in Kauf. Mit Ausbauen, Umleiten, Verflüssigen tun wir unser Möglichstes, um unsere Mobilität zu erhalten und zu vergrössern und produzieren damit laufend neue Staus und Risiken. Nur das in der Staatskasse fehlende Geld verhindert, dass noch rascher Strassen gebaut werden. Der öffentliche Widerstand gegen leistungsfähigere Verkehrsanalgen ist weitgehend verstummt. Warum weiss ich nicht. Vielleicht weil halt doch alle profitieren wollen. Weil man nach wie vor glaubt, es gäbe vorläufig für uns keine Grenzen. Oder weil Zeiten mit einer Häufung unglücklicher Ereignisse von Wachstumskritiker weniger publikumswirksam genutzt werden können als von Leuten, die dem Fortschritt mit eigenen Süppchen wieder auf die Beine helfen wollen. Skeptische Organisationen werden diffamiert, ignoriert und riskieren, am kommenden Aufschwung nicht gleichwertig beteiligt zu werden. Das Schweigen bedeutet deshalb für viele weniger persönliche Risiken.

Urkraft der Natur

Die Schweiz ist schön. Sie ist vor allem dank den Alpen, dem Jura, den Seen auch ein Land für Touristen geblieben. Marketing und Werbung setzen weiter auf heile Welt, Heidi, Fun, Adventure, bekannte Orte und Markenartikel. Aber auch im Siedlungsbrei des Mittellandes sind viele Kulturgüter zu bewundern. Alte Häuser und Dorfteile wurden von neuen Besitzern bijoumässig, perfekt und wohnlich restauriert und modernisiert. Die Bauten strahlen in einer Pracht, die sie früher im Gebrauch zweifellos nicht hatten. Die langlebigen Häuser können wir schöner, als sie je waren, auf unseren Ausflügen über Land bewundern. Dass man nicht alle Häuser an Ort und Stelle unter Inkaufnahme von Verlusten lukrativer Geschäfte erhalten muss, sondern dass man sie auch versetzen kann, zeigt man auf dem Ballenberg. Mit den Hüllen und den alten Gegenständen kann man touristisch sogar ein weniger schlechtes Gewissen mit einem neuen Geschäft verbinden. Nur das Geld für beides stammt nicht mehr vom Verkauf von Geissen und Kartoffeln aus der Gegend.

Dort, wo wir das tätige Leben der Hirten auf der Alp vermuten, nimmt der Wald zu. Die Nutzung wurde aus wirtschaftlichen Gründen reduziert. Aus den südlichen Alpen fühlt der Wolf langsam wieder in die Schweiz vor. Leider gehen Toleranz und Konsequenz gegenüber der Wirtschafts- und Landschaftsentwicklung noch nicht, als dass wir ein paar Wölfe leben lassen könnten. Immer noch gibt es Landwirtschaftbeiträge für Schafe auf den Alpen unbesehen davon, ob irgendwelche Hütemassnahmen und Massnahmen gegen Wolffrass unternommen werden. Trotz Geld aus der darbenden Bundeskasse sind wir offensichtlich noch nicht soweit wie unsere südlichen Nachbarn, die wieder irgendwie mit dem Wolf leben können. Interessant ist immerhin, dass die Landschaftsveränderungen rasch sichtbare Veränderungen in der Tierwelt bewirken.

Auch im Mittelland ist uns Landschaft erhalten geblieben. Mindestens das, was wir hinter Lärmschutzwänden und Tunnels noch von ihr übrig gelassen haben. Wieder neu können wir dank menschlicher Hilfe die ausgerotteten Biber und die Störche wieder beobachten und untersuchen. Die Online Beobachtung der besenderten Störche auf ihrem Flug nach Gibraltar und Afrika im Internet faszinierte viele Naturfreunde. Während im Grünland neben der Feldlerche auch andere Pflanzen und Tiere schlapp machen und sich nicht durch angesäte Margriten und Karden ersetzen lassen, werden die Siedlungen immer reicher an Arten. Die Flora der Stadt Zürich umfasst insgesamt 2000 verschiedene Pflanzenarten. In den letzten 160 Jahren sind mehr neue Arten dazugekommen als verschwunden sind. Die Unterschiede zwischen früheren und heutigen Arten deuten darauf hin, dass die Böden nährstoffreicher, die Temperaturen höher und die Winter milder geworden sind. Dem ist nichts beizufügen.

 

Literatur

Heinz Ellenberg: Bauernhaus und Landschaft in ökologischer und historischer Sicht. Verlag Eugen Ulmer. 1990.

Klaus C. Ewald: Der Landschaftswandel. Zur Veränderung schweizerischer Kulturlandschaften im 20. Jahrhundert. Eidg. Anstalt für das forstliche Versuchswesen, Birmensdorf, Bericht 191, 1978.

Kanton Aargau: Sanierung der Reusstalebene. AT Verlag 1982.

Elias Landolt: Flora der Stadt Zürich 1984-1998. Birkhäuser Verlag Basel 2001.

Beitragsbild: Bauten fressen Landschaft; Frick-Ost, am 11. August 2016