Ist das Gesundheitswesen krank? (5)

Das Gesundheitswesen ist Sache der Kantone. Der Kanton besitzt, betreibt, organisiert und zertifiziert die Kantonsspitäler. Erlebnisse lassen Zweifel daran aufkommen, dass der Wille und das ganzheitliche Wohl der Patienten eine hohe Alltagspriorität haben.

Kapitel 9 und 10

(9) Schwach, aber zu Hause: 22.09. bis 07.10.2007

Wann ist man eigentlich wieder gesund? Eine interessante Frage, die sich nicht so einfach beantworten lässt.

Ich bin froh, dem Spital entronnen zu sein. Weg ist das tägliche Ritual mit Pflege, die gleichzeitig eine kontinuierliche Überwachung darstellt: Wurden alle Tabletten genommen? – auch wenn keine Schmerzen und kaum mehr Fieber vorhanden sind. Sind Fieber und Blutdruck normal? Wurde pro Stunde die richtige Menge Urin ausgeschieden? Und dann das Gestürm um die tägliche Blutverdünnungsspritze! Braucht es diese wirklich? Das Pflegepersonal sagt ja. Die Pflegefachfrauen in Ausbildung haben es am Schwierigsten: Sie dürfen nicht von verordneten Normen abweichen. Erfahrenere Personen lassen eher mit sich reden: „Ich kann Sie nicht zwingen, wenn Sie die Spritze nicht wollen.“

Zuerst glaubte ich, mit solch schematischen Massnahmen würde sichergestellt, dass alle Patienten im Spital im Falle eines Notfalls ähnliche Blutwerte hätten. Aber so läuft das ja nicht: Jeder Patient muss sowieso individuell behandelt werden. Wozu denn dieser Schematismus? Hat es wohl mit Versicherungen zu tun? Wenn jemand eine Thrombose kriegt, keine Spritze hatte und deswegen das Spital verklagt? Ich kenne den Grund genauso wenig, wie die Indikation für täglich 8 Panadol-Tabletten. Eine Packungsbeilage habe ich nie gesehen. Panadol ist aber ein offenbar harmloses Mittel gegen Fieber, Schmerzen, das in vielerlei Formen als Tabletten, Zäpfchen oder Brausetabletten (mit Vitamin C, gegen Erkältungen) im Handel ist.

Hat das Kantonsspital Aktien bei der Firma, oder warum wird jedem Patienten unbesehen gegen Fieber oder Schmerzen seine Dosis verabreicht? Meine Frau sagt: „Hättest die Tabletten ja einfach verschwinden lassen können.“ – „Ja, aber für mich war das nicht so einfach, weil die Leute, die mir die Tabletten verabreichen mussten, so aufmerksam pflegten. Um 22 Uhr wurde ich extra geweckt: Herr Keller, Ihre Tabletten. Wer will schon Diskussionen um 22 Uhr?“

Was hat das mit zu Hause zu tun? Patienten und Angehörige sind unsicher. Man hat sich die Obhut des Spitals so verinnerlicht, dass man Gefahr läuft, übervorsichtig zu sein. Man wird süchtig nach dem Fiebermesser. Jedes Hüsteln erweckt Bedenken. Vor allem dann, wenn man noch nicht über den Berg ist: Meine Bauchwunde eitert so stark, dass der Verband mehrmals pro Tag gewechselt werden muss, und der Katheter mit dem Plastiksack für den Urin schränkt die geistige und körperliche Bewegungsfreiheit und das Wohlbefinden dermassen ein, dass ich mich noch immer krank fühle, auch wenn ich mich dagegen auflehne.

Eine Bekannte schrieb mir: „Wie heisst es doch so schön: Ist man gesund, hat man viele Sorgen. Ist man krank, hat man nur eine. In diesem Sinne hoffe ich für Dich, dass Du bald wieder andere (mehr) Sorgen hast.“

Das scheint mir sehr treffend zu sein. Auch meine Gedanken und Träume wurden zu diesem Zeitpunkt noch eindeutig von den körperlichen Einschränkungen – von einer Krankheit kann man ja bei einer Vorsorgeoperation kaum sprechen – dominiert. Familie, Geschäft oder Freizeit kamen nur am Rande vor. In dieser Zeit begann ich mit dem Schreiben.

Fahrt nach Aarau

Wie vereinbart, machte ich mich am Montag auf zur Visite im Kantonsspital. Am Morgen nahm ich den Autoschlüssel, startete den Motor und machte im Jura eine kleine Probefahrt. Ich musste mich konzentrieren wie verrückt. Immer wieder schweifte der Blick ab auf die Wälder, die Wiesen, die Vögel und die Wildtiere. Fast mit Gewalt musste ich den Blick auf die Strasse zwingen. Aber es geht. Und so getraute ich mich, am Nachmittag allein ins Kantonsspital Aarau zu fahren.

Wieder sitze ich im Gang vor dem Sekretariat, wo ich das ganze Geschehen um die verschiedenen Untersuchungsräume beobachten kann. Der Professor persönlich holt mich ab, schaut mir in die Augen und meint: „Ich glaube, Ihnen geht es besser.“ Kunststück, denke ich, das ist ja logisch, weil ich nicht mehr im Spital sein muss. Er führt mich in ein Besprechungszimmer, blickt im Stehen unter meinen Verband, sieht wie der Eiter fliesst und weist einen Pfleger an, mich in ein Untersuchungszimmer mit einem Schragen zu bringen. Dort verlangt er nach einem Stück Gaze oder Verbandsstoff, packt mit einer Pinzette eine Ecke davon und stösst diese in die Wunde: Die Wunde muss offen bleiben, damit der Eiter weg kann. „Kommen Sie am Mittwoch wieder, dann schauen wir weiter.“ Der Pfleger verbindet mir die Wunde, und ich bin entlassen.

Die nächste Visite

Bei der nächsten Visite betreut mich ein anderer Arzt. Der Pfleger kommt und will Blut: „Wir brauchen Ihre Blutwerte.“ – „Sind die Vampire wieder hungrig“, frage ich: „Ich nehme an, der Herr Professor ist nicht hier.“ – „Die Oberärzte haben das entschieden.“ Er muss nur machen, was angeordnet wurde. Der Mann war immer freundlich zu mir. Ich bin ruhig von zu Hause her, und wenn er halt jetzt Blut braucht, dann soll er es halt haben. Er sticht in die Vene, das Blut kommt, und er sagt: „Jetzt haben wir auch noch Glück gehabt. Ich habe nämlich nicht gespürt, wo die Vene ist.“ So kann man es auch sehen, aber es hat geklappt.

Der Arzt fragt mich ein paar belanglose Sachen, betont wieder, dass der Katheter weiterhin drin bleiben muss und weist den Pfleger an, die Gaze in der Wunde zu erneuern. Was dieser auch macht. „Ist nicht viel Neues passiert bei dieser Visite“, bemerke ich. „Nein“, bestätigt er, „wissen Sie, wichtig ist die Gaze in Ihrer Wunde. Der Chef hat es so angeordnet, jemand muss ja schliesslich sagen, was gemacht wird, und so wird es halt jetzt gemacht.“

Das finde ich an sich gut, dass jemand bestimmt – aber auf der andern Seite ist es auch eine Bestätigung dafür, dass jeder Arzt dazu neigt, nach seinen Kenntnissen (ob gelernt oder erfahren) vorzugehen und zu begründen. So entstehen laufend die erlebten Missverständnisse, wenn niemand befiehlt, wie es gemacht wird. Vielleicht wäre es besser, wenn nicht so viele verschiedene Personen entscheiden würden. Vielleicht wären die Patienten nicht zufrieden, wenn weniger Betriebsamkeit herrschte.

Mir ist es ja auch aufgefallen, dass an dieser Visite wenig passiert ist. Gibt es überhaupt eine Lösung, die allen gerecht wird? Nein. Davon bin ich überzeugt. Jeder Fall müsste individuell abgehandelt werden – dafür sind die Möglichkeiten des Spitals und des Systems nicht vorgesehen.

Kommen Sie am Montag wieder.“

Heilungsprozess

Zu Hause im sonnigen Fricktal betätige ich mich ein wenig im Garten (Früchte ernten), sitze an der Sonne, schreibe und liege viel im Bett, weil mich der Katheter beim Sitzen und Bewegen schmerzt. Meine Frau erneuert mir regelmässig Verband und Gaze. Fieber habe ich keine. Die verschriebenen Antibiotikatabletten gehen zu Ende – ich höre einfach auf damit. Schliesslich hat schon lange niemand mehr danach gefragt. Am Montag ist der Eiterausfluss fast versiegt. Die Wunde heilt. Trotzdem habe ich für die Visite erstmals ein mulmiges Gefühl. Bisher habe ich es einfach gemacht, weil ich musste und weil ich wirklich nicht gesund war. Und jetzt auf einmal habe ich ein leises Gefühl von Angst. Ist das wohl, weil ich zu Hause langsam gesund werde?

Auf der Visite im Kantonsspital Aarau ist der stellvertretende Chefarzt an der Reihe. Er untersucht mich mit Ultraschall. Er betrachtet die Wunde und fragt, wie es mir gehe: Brillant sage ich, einzig der Katheter störe mich. „Können Sie die Schläuche nicht endlich entfernen?“ Er schaut mich an: „Machen Sie Witze oder meinen Sie das ernst?“ Natürlich meine ich das ernst. Der Pfleger wirft ein, dass das letzte Mal Blutuntersuchungen gemacht wurden. Der Arzt fragt: „Kennen Sie oder Ihr Hausarzt die Ergebnisse?“ – „Wie sollte ich?“ Er murmelt, er sei mit meinem Krankheitsverlauf in letzter Zeit nicht sehr vertraut. Mit dem was er sehe, sei er zufrieden. Ich kann mir wieder eine Bemerkung nicht verkneifen: „Wenn die Ärzte zufrieden sind, dann geht es den Patienten gut.“

Er verlässt den Raum, wir müssen einen Moment warten. Was er macht, weiss ich nicht. Von den Blutwerten sagt er nichts, sondern: „Der Katheter muss noch 14 Tage bleiben; kommen Sie in 14 Tagen wieder.“ Ich mache eine betrübte Miene: „Wie soll ich da weiter gesund werden, wenn ich all die Schläuche im Bauch habe?“ – „Sind Sie denn so eingeschränkt durch den Katheter?“ – „Ich bin nur noch durch den Katheter eingeschränkt. Ich habe Schmerzen, ich muss liegen und ich sehe überhaupt nicht ein, was das Ganze soll.“ Er probiert mir wieder zu erklären. Ich unterbreche ihn: „Es hat keinen Wert. Ihre Kollegen haben es mir schon erklärt. Ich begreife es einfach nicht, und es hindert mich am gesund werden.“ Er lenkt ein: „Machen wir einen Kompromiss: 7 Tage.“ Ich denke: Immerhin 7 Tage gewonnen. Ich frage: „Ist das nicht schwierig, den Schlauch bis in die Niere wieder zu entfernen?“ – „Nein, nein. Das ist ganz einfach. Eine Sache von 5 Minuten.“

Im Sekretariat entspinnt sich nochmals eine Diskussion um die Anzahl Tage. Wegen eines Notfalls muss ich warten, bis die Sekretärin frei ist. Dem Arzt, der mich begleitete, sage ich: „Ich komme schon klar. Machen Sie nur mit Ihrer Arbeit weiter.“ Die Sekretärin hat etwas von 14 Tagen aufgeschnappt. Sie glaubt mir aber, dass wir einvernehmlich einen Kompromiss für 7 Tage ausgehandelt haben. Nur hat am kommenden Montag niemand Zeit. Am Dienstag auch nicht. Sie müssen am Mittwoch kommen. „Nein“, insistiere ich: Sie verschaffen mir 2 Tage längere Krankendauer. „Also halt am Montag, nach 7 Tagen.“

So, diese Woche werde ich auch noch durchbringen. Die Wunde heilt, aber sonst ändert sich an meinem Zustand nicht viel. Was der Körper mit den Schläuchen im Bauch heilen konnte, das hat er offenbar gemacht. Ich denke an die vielen Patienten, die mit Kathetern zu Hause leben und warten müssen, z. B. auf eine Operation. Im Spital gilt ein Katheter als eine normale Einschränkung, im Hinblick auf noch viel schlimmere Konsequenzen.


(10) Forsches Vorgehen: Abschied vom Katheter: 08.10. bis 12.10. 2007

Eine Woche zu Hause, ohne ans Spital denken zu müssen, tut gut. Und trotzdem kann ich mich nicht weiter erholen. Ich schreibe etwas, lese, bin kurz im Garten, und nachher bin ich so müde, dass ich mich am Nachmittag hinlege und schlafe. Mein Zustand ist und bleibt stabil. Kein Fieber, keine Schmerzen, ausser dass beim Sitzen oder Stehen der Katheter in der Blase stört.

Am Montag mache ich mich zur Arztvisite ins Kantonsspital Aarau auf. Ich habe wiederum ein etwas mulmiges Gefühl. Ich bin nie sicher, ob die Ärzte heute wieder etwas anderes erzählen und machen als abgemacht.

Die Sekretärin begrüsst mich und meint: „Heute kommt das Zeugs raus.“ Ja, deshalb bin ich ja hier: um den Katheter loszuwerden. Ich warte im Raum, der als Wartzimmer deklariert und mit vielen künstlichen Gelenken garniert ist. Ich halte mich eher im offenen Gang auf, bis mich der Pfleger, den ich bisher nur vom Sehen kenne, abholt. Er führt mich in ein Besprechungszimmer. Ein Arzt und eine junge Ärztin kommen. Mit beiden hatte ich bisher wenig zu tun.

Der Arzt macht sich ein wenig wichtig. Er startet den Computer mit meiner Krankengeschichte, blättert im entsprechenden Dossier auf dem Tisch – zuoberst erkenne ich ein Dokument „Austrittsbericht“ provisorisch –, fragt und redet: „Wissen Sie, was passieren kann, wenn wir die Schläuche zu früh entfernen?“ – „Ja sicher, dann lande ich wieder hier bei Ihnen. Aber bitte, Herr Doktor: Sie brauchen mir keine Angst mehr zu machen. Weil es hier alle Ärzte tun, bin ich langsam immun dagegen. Ich weiss, das Risiko ist immer auf meiner Seite, und ich habe mit Ihrem Vorgesetzten abgemacht, dass die Schläuche heute rauskommen. Deshalb bin ich hier.“ So rasch gibt er sich nicht geschlagen. Er rechnet nochmals vor, wie lange es jetzt seit der Operation her ist. „Ich mache noch eine Ultraschalluntersuchung“, sagt er nebenbei. Ich liege auf der Seite und habe deshalb keinen Blick auf den Monitor. Er tuschelt mit der Ärztin. Diese fragt: „Was ist das?“ Seine Antwort verstehe ich nicht. Sie drucken ein paar Bilder aus, und ich kann wieder aufsitzen.

Auf einmal beginnt der Arzt über meinen Wasserbruch zu reden: „Das ist ja grotesk, so ein grosser Hoden, der geniert Sie sicher beim Gehen.“ Der Pfleger unterstützt ihn: Da müssen Sie unbedingt etwas machen. Sind Sie schon angemeldet für die Operation? Wenn nicht, dann sollten wir das sofort nachholen.“ Ich frage den Arzt: „Wem sagen Sie das: grotesk? Wissen Sie eigentlich, weshalb ich zum Arzt ging? Sicher nicht wegen der Niere. Und wissen Sie, dass sich bis heute niemand für den Wasserbruch interessiert hat, obwohl alle davon wussten?“ – „Ja, man muss halt zuerst das Gefährlichere behandeln.“ Ich werde langsam wieder unwillig: „Ja, das habe ich gelernt: Ärzte finden immer etwas, das noch dümmer ist und das Zweitdümmste muss warten.“ Die junge Ärztin mimt Verständnis und gibt mir ein wenig Recht. Der Arzt verlässt uns für eine Weile. Er muss sich irgendwo noch rückversichern, was jetzt passieren soll: „Wir haben uns bei Ihnen für ein forsches Vorgehen entschieden,“ verkündet er, als er wieder kommt. Also sind wir auch heute wenigstens wieder dort, wo ich mit dem andern Arzt vor einer Woche war. Er legt mir nahe, zu Hause regelmässig die Fieber zu messen und mich alle 3 Tage beim Hausarzt für Blut- und Urinuntersuchungen zu melden. In 14 Tagen werde ich wieder zur Konsultation ins Spital bestellt – und zwar zu einem von 2 namentlich erwähnten Ärzten, seinen Vorgesetzten. Ich werde wieder in den Warteraum geschickt und harre der kommenden Tätigkeit, die in 5 Minuten erledigt sein soll.

Der Pfleger holt mich wieder ab. Diesmal führt er mich in einen anderen Raum mit einem Schragen und verschiedenen Geräten und Monitoren. Ich muss mich hinlegen und „frei machen“.Weshalb haben Sie noch einen Blasenkatheter?“ fragt der Pfleger. „Das fragen Sie mich? Mir scheint, Sie stellen wenigstens die richtigen Fragen. Ich habe bisher nicht herausgefunden, weshalb der Katheter nötig ist. Ich vermute, der blieb einfach drin, dass ich nicht übermütig werde und mich wieder vom Spital verabschiede.“ Den Katheter in der Blase darf der Pfleger entfernen. Er instruiert dabei die junge Ärztin, wie das geht und mit welchen Tricks er es machen kann, damit der Patient möglichst wenig Schmerzen empfindet. Er macht das routiniert, die Ärztin schaut interessiert zu. Ich glaube, Teaching nennt man das im Spital, wenn Pfleger den Ärzten Tricks beibringen.

Für mich denke ich: Die 5 Minuten sind um. Nur ist der Schlauch von der Niere in die Blase noch immer im Körper. Wie kommen sie wohl an den heran? Meine Neugier wird rasch gestillt: Mit grosser Sorgfalt bereitet der Pfleger – immer mit ausführlichen Erklärungen für die Ärztin – verschiedene Instrumente, Lampen, Monitore, Flüssigkeiten, Tücher und was weiss ich vor. Er spritzt mir eine Flüssigkeit in die Blase – „zur Schmerzlinderung“, wie er anmerkt. „So, jetzt müssen wir einen Moment warten.“ Die Ärztin wird zu einer anderen Untersuchung gerufen, und wir sind allein. Der Pfleger unterhält mich: „Kennen Sie die drei häufigsten Lügen der Ärzte im Spital?“ – „Nein, natürlich nicht. Ich habe nur erfahren, dass in der Regel jeder Arzt etwas anderes erzählt.“ – „Das stimmt“, bestätigt er. Seine Version der häufigsten Lügen der Ärzte will er mir aber nicht vorenthalten: „Das habe ich auch schon gemacht, das tut überhaupt nicht weh, und ich komme sofort.“ Das gequälte Lachen bleibt mir etwas im Hals stecken. Ich bin überzeugt, er beschreibt die momentane Situation im schmucklosen Behandlungszimmer. Wir 2 warten. Er wüsste wie, er macht die Instrumente klar, und er zeigt den andern, wie es geht – den Eingriff aber muss der Arzt machen: „Wissen Sie, was jetzt kommt ist wie eine Blasenspiegelung.“

Arzt und Ärztin kommen. Alle reden laut und machen Witze hin und her. Noch kein Mittagessen habe er gehabt, der Herr Doktor, obwohl die Uhr schon deutlich nach 15 Uhr zeigt. Ich verkneife mir einen Spruch; denn seine Essensgewohnheiten sind ja nicht mein Problem. Mir wäre gedient, wenn sie endlich anfangen würden nach dem Motto: „Haarschneiden und kein Geschnorr“, wie ein alter Bekannter jeweils dem Coiffeur zu sagen pflegte. Unbekümmert und ohne meinem unausgesprochenen Wunsch gerecht zu werden, hantieren Ärzte und Pfleger mit den vielen Instrumenten und Kabeln. Das ist unser Monitor, das ist der Monitor für Herr Keller. Ich habe die Augen geschlossen, gehe geistig auf Stand-by und bewege den Kopf nicht. Die Ärztin bettet mir das Kissen noch richtig hin. Sie hat offenbar noch Sinn für das Praktische und ist noch nicht einfach auf das Instrument fixiert. Der Pfleger meint: „Der Herr Keller braucht keinen Monitor, er will nicht schauen.“ Ich bin ihm dankbar. Und dann geht es los. Wo die Ärzte eine Körperöffnung finden, gibt es heute Instrumente, die eingeführt werden können. Instrumente mit Kameras, mit Licht und Greifern wie in der Weltraumfahrt. Ich spüre das Instrument in meiner Harnröhre. Ich höre die Tätigen reden. „Hier haben wir das, siehst Du. So, da wäre der Schlauch. Hier ist der Greifer. Wenn Du das machst, geht die Zange auf. Ja so … So jetzt. Schliessen musst Du. Ja, fester. Herr Keller, bitte husten.“ Angespannt liege ich so ruhig wie möglich und versuche zu husten. Der Schlauch entgleitet dem Greifer offensichtlich und die Übung mit der Zange beginnt von neuem. Je nach Bewegung spüre ich Schmerzen. „Bitte husten.“

Und auf einmal geht es ganz schnell. Das Instrument gleitet raus, nicht ohne an meiner inneren Oberfläche zu kratzen, und der Arzt hält mir triumphierend einen grünen, etwa 25 cm langen Schlauch, der oben und unten geringelt ist, vor die Nase. Er ist sichtlich erleichtert: „Wollen Sie ihn nach Hause nehmen?“ – „Sicher nicht, entsorgen Sie das Ding.“ – „Herr Keller, ich danke Ihnen.“ – „Ich habe ja gar nichts gemacht.“ – „Eben deshalb, weil Sie so schön ruhig gehalten haben.“ Ich verstehe nicht recht. Der Pfleger klärt mich auf: „Wissen Sie, es gibt Patienten, die zappeln, jucken, kratzen und beissen.“ Mir kommt in den Sinn, was der Pfleger vorhin über die 3 häufigsten Lügen der Ärzte gesagt hat: „Das habe ich auch schon gemacht …“

Nach und nach dämmert es bei mir. Die Sekretärin wollte mich ja für Mittwoch und nicht für Montag einschreiben. Sie wusste, wer wann Dienst hat. Aber das ist Schnee von gestern. Die Ärzte verabschieden sich. Der Pfleger meint: „Sie können aufstehen“ – und macht sich auch davon. Wieder einmal bin ich allein auf dem Schragen. Ich bleibe noch etwas liegen. Dann suche ich meine Kleider, ziehe mich an, demontiere den Plastiksack für den Urin in meinem Trainer und stehe auf. Auf dem Schragen zurück bleibt eine Lache braun-roter Flüssigkeit. Ich vereinbare den nächsten Termin, winke dem Pfleger von weitem zum Abschied und mache mich aus dem Staub.

Zu Hause geht es einigermassen gut. Ich kann das Wasser halten – erstaunlich, dass der Schliessmuskel sofort wieder funktioniert – einzig beim Wasserlösen habe ich Schmerzen. Ich nehme an, das sei normal. Nachts ruft verhalten der Waldkauz (Wiggel, Wiggle) auf der nahen Wiese. Seine Balzzeit beginnt erst in den nächsten Monaten. Trotzdem ist vom Weibchen schon der Ruf: „Kiwitt, kiwitt“, oder „Komm mit, komm mit“ zu hören. Meine Frau fragt: „Wohin mit?“ und meint diese Deutung des Rufes sei Hokuspokus. Auch für mich ist es eher ein Zeichen für den kommenden Frühling – auch wenn dieser noch eine Weile auf sich warten lässt.

Am nächsten Morgen nehme ich an einer geschäftlichen Sitzung teil. Die Teilnehmer freuen sich über meine Teilnahme. Es geht gut, ich werde sehr müde und schwitze. Meine Frau bemerkt erst später, dass sich an den Hosen sogar Salzstreifen abzeichnen. So ganz gesund bin ich offenbar doch noch nicht. Aber jetzt geht es mir wirklich von Tag zu Tag besser. Nachts im Bett kann ich mich wieder auf beide Seiten drehen. Ich kann etwas im Garten machen, helfe ein wenig beim Mosten, schreibe und schlafe viel.

Ich spüre wieder meine Gürtelrose, die ich im Spital weitgehend vergessen habe. Das Gewicht ist konstant und beginnt gegen Ende Woche sogar wieder zu steigen. Schon muss ich wieder aufpassen, dass ich mir die verlorenen 10 kg Gewicht nicht gleich wieder zulege.

Am Freitag gehe ich zum Hausarzt. 3 Tage schienen mir etwas kurz, also habe ich die Frist etwas verlängert. „Ah, die Schläuche sind draussen. Sehr gut“, findet er das und ist erleichtert. Eine Quelle für Infektionsmöglichkeiten weniger, meint er. Ich staune: Bisher hat er immer dem Spital geholfen.

Ich lasse Blut und Urin in der Praxis. Die Praxishilfen sind alle freundlich und erkundigen sich nach der Wunde. Der Eindruck des Eiters wirkt offenbar nach. Ich schildere dem Hausarzt meine Erlebnisse und frage: „Weshalb entlassen mich die Herren nicht aus dem Spital? Wieso machen sie jetzt immer Ultraschall und sagen nichts? Wie lange soll die Sache eigentlich noch gehen?“ Er sagt: „Komm, wir machen auch Ultraschall.“ In wenigen Minuten hat er Bilder von der operierten Niere: „Schau, da ist die Niere und hier, wurstförmig an die Niere angelehnt, 5 cm lang, leicht gebogen, hast du eine Flüssigkeit (Hämatom?). Das stammt noch, wie die Infektion, von der Operation. Man weiss nicht, ob das so bleibt, wächst oder verschwindet. Deshalb wirst Du nicht entlassen.“ – „Ah, so ist das. Wieso hat mir das im Spital niemand gesagt?“ Ist es wohl das, was Arzt und Ärztin tuschelnd verhandelten während der letzten Visite. Ich frage: „Wie lange dauert das noch?“ – „Schau, das weiss niemand. Vorläufig bist Du arbeitsunfähig, Dauer unbestimmt, möglicherweise bis Ende November, dann können wir den Wasserbruch auch noch behandeln.“ – „Was soll ich denn noch im Kantonsspital Aarau in 14 Tagen?“ – „Ja sage ihnen, sie sollen den Schlussbericht machen und nachher übernehmen wir den Fall wieder selber.“

Ernüchtert, erleichtert und gleichwohl wieder ein wenig verunsichert gehe ich nach Hause. Nicht ohne noch eine Ausfahrt von Brugg durch das Aaretal und den Jura zu machen. Nebel sitzt dicht über der Aare. Die Luft in der Stadt stinkt richtig. Erstmals höre ich wieder in den Nachrichten: Die Konzentration des Feinstaubs hat den Grenzwert massiv überschritten. Im Fricktal scheint die Sonne.

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Autor ANL

ab 27-10-2016 Heiner Keller