Das Vorwort im neuen Buch

Vorwort

Ich erzähle meine Geschichte von Landschaft und Menschen, wie ich sie erlebt habe. Ich interpretiere und weise auf Zusammenhänge zwischen Pflanzen- und Tierarten, Lebensräumen und Nutzungen hin. Die Breite des Stoffs, die Verflechtungen, die unzähligen Bücher, Texte, Publikationen und die Dichte der Erlebnisse und Beobachtungen sind so gross, dass ich mich auf wenige Gedanken und Schlaglichter beschränken muss. Weil im Wirkungsbereich der Jura-Förster kein einziger Baum ein Alter erreicht, das gemessen an der menschlichen Lebensspanne 40 Jahre überschreitet, schreibe ich von Forst: Es fehlen im Aargauer Jura grosse Bäume und Holzmengen (Holzvorräte pro Hektar), wie sie für einen Lebensraum Wald typisch und unabdingbar sind. Ich formuliere mit den Worten der momentan gebräuchlichen Allgemeinsprache. Der Text ist direkt, klar, undiplomatisch und unloyal. Auf einschränkende Zensuren für den Erhalt von Druckkostenbeiträgen habe ich verzichtet. Ich bin echt glücklich und dankbar, dass das mir, mit Hilfe von Freunden und Kollegen, so möglich gewesen ist. Wer weiss, was in Zukunft bezüglich freier Meinungsäusserungen noch möglich sein wird.

In Diskussionen und Auseinandersetzungen sind mir, beim Blick in den Rückspiegel meines Lebens, aus Kindheit, Ausbildung, Berufsleben und Rentnerdasein viele Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Landschaft erst richtig klar geworden. Das Buch dokumentiert meine persönlichen Erlebnisse mit Landschaft, Forst und Menschen im Kanton Aargau aus rund 60 Jahren. Dank Vorfahren, Zeitzeugen, Fotos, Berichten und dem maximalen Lebensalter heutiger Bäume kann ich mir die Vorgänge in der Landschaft der letzten 140 Jahre ziemlich konkret vorstellen.

Gedanken zum Buch beschäftigten mich seit 2015. Auslöser waren der Einsatz neuer Forst-Maschinen im Staatswald von Densbüren. Von unserem Haus aus und auf täglichen Spaziergängen mit dem Hund waren und sind die etappierten Kahlschläge und die plantagenmässigen Anpflanzungen neuer Bäume nicht zu übersehen. Immer weitere Erlebnisse, ausufernde Recherchen, die Sichtung der Büroakten aus 40 Jahren Berufsleben (2019), Auseinandersetzungen und Diskussionen mit Kollegen liessen mir manches Licht über Veränderungen aufgehen, die mir im Alltagsleben nicht bewusst waren.

„Ich weiss gar nicht, was sie gegen das Holzen haben: Bäume wachsen ja immer wieder. In wenigen Jahren sehen sie von Holzschlägen und Räumungen gar nichts mehr. Und Maschinen braucht es heute einfach“: Solche Aussagen höre ich von der Landbevölkerung immer wieder. Sie hat recht: Der Reparaturservice der Bäume ist dermassen kraftvoll, dass jeder noch so malträtierte Boden in unserer Landschaft (inklusive Waldareal und Siedlungen) ganz von allein wieder grün und bäumig wird. Dieses Buch handelt aber nicht von grüner Vegetation und von Farben, sondern von unserer heimatlichen Landschaft, den Betriebsflächen der Forstbetriebe, der Natur, den Auswirkungen unseres Lebensstils der sich verändernden Gesellschaft. Grün allein hat mit Ökologie und vernünftiger Landnutzung wenig zu tun. Die Lackierung bei einem Auto sagt auch nichts über Verbrauch, Ausstoss, Unterhalt und Leasinggebühren aus. Und von Autos versteht die Landbevölkerung etwas. Leider machen weder das Volk, noch die Forstwissenschaft oder die Politik einen Unterschied zwischen dem zur Holzproduktion bewirtschafteten Forst und dem Wald als Lebensraum, der sich sehr gut ohne die Nutzung entwickeln kann.

Mit dem Eigentum am Waldareal (z.B. im Staatswald) sind gemäss aargauischem Waldgesetz 1997 (in Kraft seit 1999) Verpflichtungen verbunden: „Die Waldeigentümerinnen und Waldeigentümer achten darauf, dass der Wald seine Schutz-, Wohlfahrts- und Nutzfunktionen nachhaltig erfüllen kann“. Dass sie davon noch nie etwas gehört haben, ist nicht verwunderlich: Seit dem kantonalen Forst-Gesetz vom 29, Februar 1860 (in Kraft bis 1999) sehen sich die zuständigen Amtsstellen als alleinige Vertreter der Eigentümerinnen und Eigentümer im Waldareal. Das heutige Waldgesetz verlangt in § 15,2 unmissverständlich: „Der Regierungsrat erlässt oder ändert den Waldentwicklungsplan nach der Durchführung eines Mitwirkungsverfahrens. In diesem wird der Planentwurf aufgelegt. Den Waldeigentümerinnen und Waldeigentümern, den Einwohnergemeinden und der Öffentlichkeit wird die Möglichkeit gegeben, Einwendungen zu erheben und Vorschläge einzureichen“. Auf meine schriftliche Anfrage teilte mir Herr Regierungsrat Attiger, zu dessen Departement Bau, Verkehr und Umwelt die Verwaltungsabteilung Wald heute organisatorisch gehört, am 25. Januar 2017 schriftlich mit, dass der Kanton Aargau diesen Teil des Gesetzes nicht vollziehe: „Wäre der erste Entwurf des Waldgesetzes erst 1998 entstanden, wäre für den Waldentwicklungsplan mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Kann-Formulierung gewählt oder auf das Instrument des Waldentwicklungsplans vollständig verzichtet worden“.

Die Begründung für den offiziell-regierungsrätlichen Nichtvollzug des kantonalen Gesetzes, dem das Volk 1997 mit 84 % Ja zugestimmt hat, ist ebenso abenteuerlich wie bedenklich. Es bestätigt, dass die Bevölkerung, die Steuerzahler, die Waldeigentümerinnen und Waldeigentümer nach heutiger Praxis mit der Wahl der Gemeinderäte und des Regierungsrates alle Mitwirkungsmöglichkeiten für das Waldareal vollkommen aus der Hand geben haben. Personalfragen, wie die Wahl des Kantonsförsters, Gemeindeschreiber, Revierförster, Leiter der Forstbetriebe liegen in der alleinigen Kompetenz der Exekutive. So erstaunt es nicht, wenn die aktuellen Tätigkeiten und Absichten der Forstbetriebe oft im Widerspruch zu (noch) gültigen Rechtsnormen aus der Endzeit des 20. Jahrhunderts stehen. Die Zerstörung von national und regional geschützten Landschaften und Lebensqualitäten durch die zunehmend mit Beiträgen gelenkte Forstwirtschaft wird von allen Verantwortlichen billigend bis zustimmend in Kauf genommen und von forsteigenen Lobbyorganisationen unterstützt und gegen Kritik abgeschirmt.

Aus den bewaldeten und gemeinsam zur Selbstversorgung genutzten Allmenden und Waldungen der ehemaligen Dorfgemeinschaften entstanden im 21. Jahrhundert monopolisierte Nutzungszonen. Das raumplanerisch fixierte Waldareal ist millimetergenau vermessen und in der Landschaft linear abgefräst. Es umfasst Im Aargauer Jura, je nach Gemeinde, 40 bis über 50 Prozent der Landfläche. Auf jährliche Profite getrimmte Forstbetriebe und Forstunternehmer nutzen öffentliche Gelder für Agroforste, Plantagen, Jungwuchspflege, Biodiversität, Erholungsraum und eine zunehmende Anzahl von „Waldfunktionen“. Im Begriff „Unternehmer“ ist das „Nehmen“ von Geldern schon enthalten. Ohne die schleichende Anpassung von Gesetzen und ohne den dauerhaften Fluss des Mannas aus Bern und Aarau liessen sich weder die Hightech- Maschinen, die Übererschliessung, das sinnwidrige Verbrennen von geerntetem Holz, die Kollateral- und Folgeschäden an Böden und Landschaften gar nicht bewerkstelligen. Landschaft spielt nur noch als Kulisse für Freizeit und Tourismus, als beitragsberechtigtes „Kulturland“ oder „Waldareal“, für Nutzungen oder Nutzungsverzichte, ein wirtschaftliche Rolle. Begründungen, z.B. Not-Gelder für die Behebung von „Waldschäden“ werden immer dreister. Was heute mit der Planwirtschaft im Forst, in Landwirtschaft, in Politik, in Ausbildung und in Forschung angerichtet wird, ist sachlich nicht mehr in Einklang zu bringen, mit dem, was mir an den Hochschulen in Zürich in naturwissenschaftlichen Fächern der Biologie und in der Praxis gelehrt wurde. Mit Demokratie und liberalem, eigenverantwortlichen Markt nach Angebot und Nachfrage hat das nichts mehr zu tun. Irr und wirr sind die stereotypen Wiederholungen von der flächendeckenden Notwendigkeit von Holzschlägen für die Gesunderhaltung des „Waldes“. Nicht der „Wald“, von dem wir keine Ahnung haben, ist krank, sondern der Forst und die Forstwirtschaft.

Forstwissenschaften, mit einer kurzen Episode einer „Professur für Waldbau“ und einer noch kürzeren „Professur für Naturschutz“, werden an der ETH-Zürich nicht mehr gelehrt. Bäume in Wäldern oder gar in Urwäldern, sind viel zu langlebig, als dass sie sich für rasch wechselnde Forschungsziele, Ausbildungen und akademische Karrieren in der schnelllebigen Zeit des dritten Jahrtausends unserer Zeitrechnung eignen würden. Gefragt sind flexible Manager, die neue Strömungen antizipieren, verstärken und in finanzierte Projekte umsetzen können. Grundlegende naturkundliche Erkenntnisse, werden negiert und dem unaufhaltsame Fortschreiten der Technik, der Globalisierung und die Mehrung des monetären Wohlstands untergeordnet. Eine Waldforschung findet in der Schweiz nicht mehr statt. Eine konsolidierte Vision für Landschaft und Wald fehlen ebenso, wie konkrete Ziele der Waldeigentümerinnen und Waldeigentümer als Grundlage für den langfristigen Aufbau ihrer eigenen Forstflächen zu wirklichen Wäldern.

Viele meiner Kollegen, die im Berufsleben namhafte Aufgaben erfüllten, äussern sich gleichermassen „entsetzt“ über ihre Beobachtungen. Experten mit Erfahrung in Naturkunde, sterben aus. Die Biologie, die Wissenschaft, die sich mit Ökologie, mit Pflanzen und Tieren befasst, gehörte, zurzeit als ich studierte, zu den exakten Naturwissenschaften. Die Themen und Fachbereiche (z.B. einzelne Arten, Populationen, Gemeinschaften, Genetik, Geobotanik) sind so vielfältig und komplex wie die Natur selbst. Millionen von Arten, mit Milliarden von Beziehungen, feinen Selbstregulierungen und einer erfolgreichen Evolution an das Landleben seit rund 600 Millionen Jahren führten zum heutigen biologischen Leben der Natur. Die entsprechenden Grundlagenforschungen an den Hochschulen sind aufwendig und langwierig. Sie werden kaum mehr gefördert und gelehrt, weil sie für rasche und opportunistische Publikationen ungeeignet und damit karrieretötend sind. Im Gleichschritt mit der Vereinheitlichung der Natur in der Landschaft werden auch die Naturwissenschaftler mit guten Kenntnissen in Biologie selten. Sie werden ersetzt durch Heerscharen generalisierter und loyaler Mitarbeiter des Mainstreams. Sie glauben alles zu wissen und auf Forschung verzichten zu können. Die unzähligen UmweltsystemwissenschaftlerInnen, die Absolventen von opportunistischen Fachhochschulen und Instituten werden an der „sanu future learning ag“ in Biel (www.sanu.ch) zu „Fachspezialisten“ ertüchtigt und vernetzt. Als Angestellte von aufblühenden öffentlichen Körperschaften (Verwaltungen) und fortschrittlichen Unternehmen werden sie der Gesellschaft und den Lobbyisten noch für Jahrzehnte erhalten bleiben.

Sowohl die Evolution der Erde, als auch die über jedes vernünftige Mass und Risiko hinaus gierige, global-technisierte Wohlstands- und Wachstumsgesellschaft halten ohne jeden Zweifel neue Überraschungen für die Krone der Schöpfung bereit. Wir, auch wir Schweizer, nähern uns mit erschreckender Unausweichlichkeit utopischen Gesellschaftsformen, wie sie ORWELL (2002) und HUXLEY (1953) als „Schöne neue Welt“ beschrieben haben. Die Gesichtsmasken aus China, an deren täglichen Gebrauch wir uns gerade gewöhnen, sind wohl erst der Anfang der Entwicklung. Das künftige Leben wird nie mehr so sein, wie ich es in jungen Jahren erlebt habe. Höchste Zeit zum Handeln nach BRECHT‘s Drama „Mutter Courage“ (1941): „Was noch nicht gestorben ist, das macht sich auf die Socken nun“. Oder: Geht die beste aller Demokratien der Welt als Staatsform nach rund 200 Jahren langsam aber unausweichlich zu Ende? Der Schweizer Journalist und Publizist OSKAR RECK (1920-1996), nannte diese Zahl aufgrund seiner Erfahrungen als Faustregel für radikale Erneuerungen: Alle Staatsorganisationen neigen dazu, dass sich die Mächtigen Pfründe und Privilegien zulegen, die irgendeinmal nicht mehr dem Wohle des Volkes dienen.

Die Texte mögen die Leserschaft dazu anregen, selber zu beobachten, zu überlegen und vielleicht sogar zu Handeln.

Oberzeihen, Januar 2021